Egal ob auf einer Geburtstagsparty, im Restaurant oder beim Klassentreffen. Wenn sich Menschen treffen, die einander fremd sind oder die sich lange nicht gesehen haben, dann scheint es, als gäbe es immer öfter keine andere mögliche Einstiegsfrage als die nach dem Beruf und der Karriere. Persönlichkeiten werden daran gemessen, was sie im Job etwas vollbracht haben. Nur zur Info: In vielen anderen Ländern galt die Berufsfrage lange zu Recht als unhöflich, weil sie den Menschen lediglich auf den Beruf reduziert. Hier indes ist die Antwort auf die Profession längst zum einzigen Merkmal geworden, auf die ein Mensch reduziert werden sollte. Es zählt immer öfter einzig und allein, was jemand tut – und ob sein Handeln im gesellschaftlichen Sinne als erfolgreich gilt. „Ah, Sie studieren Kunst?“ Das ist ja interessant. Aber wie sind damit die Erfolgsaussichten im späteren Berufsleben? Früher gab es Fragen nach der Herkunft. Nach den Lebenszielen. Nach dem Menschen. Heute ist der Mensch das, was seine Karriere ist. Und mit ihr das Geld. „Die Bedeutung des Begriffs Erfolg hat sich in unserer Gesellschaft im Lauf der Zeit auf Geld und Macht verengt. Inzwischen sind Erfolg, Geld und Macht für viele Menschen geradezu synonym“, konstatiert Arianna Huffington in ihrem 2015 auf Deutsch erschienenem Bestseller „Die Neuerfindung des Erfolgs“, den sie, es passt perfekt in die Geschichte, nach einem Zusammenbruch geschrieben hat. Erfolg nach ökonomischen Grundsätzen ist vielfach längst das einzig akzeptierte Resultat. Und zwar wirtschaftlicher Erfolg. Geld, Karriere, Prestige. Schlecht für jene, die so etwas nicht vorweisen können.
Der Stellenwert des Erfolges steht in direktem Zusammenhang mit der Ökonomisierung. „Der Begriff der Ökonomisierung bezeichnet die Ausbreitung des Marktes samt seinen Prinzipien und Prioritäten auf Bereiche, in denen ökonomische Überlegungen in der Vergangenheit eine eher untergeordnete Rolle spielten bzw. die solidarisch oder privat organisiert waren“, erklären die Verfasser auf Wikipedia. Die Vereinigung menschliche Marktwirtschaft beschreibt Ökonomisierung so: „Ökonomisierung lässt sich auch als Abkehr von einer menschlichen, einer sozialen, einer gemäßigten bzw. von einer in Werte der Fairness, Verantwortbarkeit und Sinnhaftigkeit eingebetteten Marktwirtschaft fassen.“ Bereits vor rund 20 Jahren sprach Viviane Forrester in der Globalisierungsdebatte vom „Terror der Ökonomie“.
Sie halten natürlich kein Buch über Wirtschaftsethik oder die Grenzen der Marktwirtschaft vor sich und ich möchte mich hüten, in die hitzige Diskussion über Ökonomisierung einzusteigen. Dennoch sehe auch ich Tendenzen zur Ökonomisierung, bishin zur Ökonomisierung von Umgangsformen. Das Ergebnis lautet Etikette als Erfolgsfaktor.
Was jedoch nicht bedeutet, dass durch und durch auf die Frage des Profits abgestelltes Handeln sich mit einer nachhaltig ethischen Denkweise Knigges vereinen ließe. Da es beim Thema Knigge um das Denken und Handeln des Menschen geht, möchte ich den Begriff der Ökonomisierung vor allem vor der Frage betrachten, inwieweit wir unser eigenes Denken und Handeln ökonomischen Regeln unterworfen haben. Es geht also nicht um die Frage, ob ein Krankenhaus oder eine Schule nach wirtschaftlichen Regeln zu führen sind.
Es geht mir vielmehr um die Frage, inwieweit wir gar nicht mehr anders können, als in nahezu jedem Bezug wirtschaftlichen zu denken. Ein Blick in die Teams und Abteilungen von Unternehmen, aber auch ein Blick auf die Gesellschaft generell lässt erkennen: Ein Gros von uns denkt längst im ureigenen ökonomisiert.
Wie konnte das passieren? Was bedeutet das? „Vor nicht allzu langer Zeit stützte sich unsere Kultur und damit unsere Identität auf die Wechselwirkung von vier zentralen Aspekten: Politik, Religion, Wirtschaft und Kunst, wobei Politik und Religion um die Macht wetteiferten“, schreibt Paul Verhaege in seinem Buch „Und ich?“. Heute indes zählt laut Verhaege „außer der Wirtschaft gar nichts mehr und die neoliberale Erzählung determiniert alles.“ Wer ein Blick in die Zeitungen und auf das Leben wirft, wird dem Psychoanalytiker in dieser Feststellung zustimmen müssen.
In einem Positionspapier der evangelischen Kirche heißt es treffend. „Es ist zweifellos so, dass der Zwang zum Ökonomisieren von Menschen gemacht ist; er entspricht keiner objektiven Wahrheit im Sinne eines Naturgesetzes. Auch gibt es kein göttliches Gebot und keinen logischen Schluss, die uns Menschen zwingen könnten, alles –einschließlich uns selbst – zu ökonomisieren. Wenn aber die zeitliche Begrenztheit dem Menschen auferlegt, alles, was er tut und genießt, wirtschaftlich zu betrachten, dann ist das eine ebenso grundlegende Tatsache wie jene, dass wir atmen müssen.“
Auch hier vielleicht noch ein Beispiel aus der Berufswelt. Werfen Sie einmal einen Blick auf Manager und Politiker aus den 50ige rund 60iger Jahren und auf Vorstände und Geschäftsführer aus dem 21. Jahrhundert. Früher sahen Wirtschaftsbosse und Politiker aus wie Birnen, heute sind es Spargelstangen. Ob Ludwig Erhard oder Max Grundig: Man kann sich diese Lenker vorstellen, wie sie Wichtiges bei einem ordentlichen Essen und einer Zigarette besprochen haben. Heute, im Fitness- und Ökonomiezeitalter undenkbar. Es würde solchen Managern kaum zugetraut, mit einer solchen Figur ein Unternehmen zu lenken. Wie soll jemand, der nicht einmal seinen eigenen Körper zum Erfolg führt und durch Disziplin im Griff hat, ein Unternehmen oder gar ein Land lenken? So wundert es nicht, dass die Manager von heute eher aussehen wie Asketen oder Leistungssportler. Und zwar durch die Reihe weg. Von Henkel-Chef Kasper Rorsted über Post Lenker Frank Appel oder Siemens-Boss Joe Kaeser bis Ex-Telekom-Chef René Obermann. Allesamt Business-Leistungssportler.
Die neue Wirtschaftselite zeigt ihren Jüngern, wo die Messlatte hängt. Die Nachricht: Erfolg ist machbar. Jeder kann es schaffen, wenn er nur hart genug dafür arbeitet. Jemand der jedoch nicht einmal sich selbst im Griff hat und für einen sportlichen Körper trainieren kann, dem wird diese Leistungsfähigkeit nicht zugebilligt. Entsprechend wird es für viele Menschen immer wichtiger, was jemand beruflich leistet, also welche Erfolge er zu verbuchen hat. Zwar spielt beruflicher Erfolg laut Knigge-Report für rund 47 Prozent eine untergeordnete Rolle. Für 36 Prozent hat Erfolg jedoch teilweise schon eine Bedeutung, für 18 Prozent sogar eine große.